„Solange ein Tumor anfangs noch lokal begrenzt wächst, ist er in gewisser Weise noch kontrollierbar. Was aber Krebs vor allem in späteren Stadien so gefährlich macht, ist seine besondere Fähigkeit, sich mit der Zeit im Körper beliebig auszubreiten", sagt Dr. Josef Käs, Professor für Experimentalphysik an der Universität Leipzig. Die Forscher stellten sich die Frage, was sich in Tumorzellen so grundlegend verändert, um diese Fähigkeit zu erlangen. Einen Erklärungsansatz lieferte ihnen die Entwicklungsbiologie. So konnte in der Vergangenheit gezeigt werden, dass sich Zellpopulationen aus unterschiedlichen embryonalen Gewebetypen auch im Nachhinein noch „von selbst sortieren" können. Dabei verhalten sich zwei verschiedene Zellpopulationen aus physikalischer Sicht wie zwei Flüssigkeiten, die sich wegen ihrer unterschiedlichen Oberflächenspannung nicht mischen lassen.
Dieser Erklärungsansatz könnte nach Ansicht der Forscher auch auf Krebszellen übertragen werden. Beim Prozess der sogenannten epithelial-mesenchymalen Transition (EMT), der typisch für metastatische Krebszellen ist, ändert sich unter anderem die Verteilung der Adhäsionsmoleküle auf der Zelloberfläche. „Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass auch hier die veränderten Zelleigenschaften, insbesondere die Oberflächenspannung, das Sortierungsverhalten von Krebszellen entscheidend beeinflussen", erklärt Physiker Steve Pawlizak, der gemeinsam mit Anatol Fritsch einen entscheidenden Anteil an den Forschungen hat. Beide sind Doktoranden in Käs‘ Arbeitsgruppe.
Schwächen in der Theorie
Die Forscher konnten jedoch zeigen, dass dieser naheliegende Erklärungsansatz für Krebszellen nicht uneingeschränkt zutrifft. Mit einer Vielzahl biophysikalischer Methoden untersuchten sie unter anderem, wie stark einzelne Zellen unterschiedlicher Aggressivität aneinander haften, die Dichte von Adhäsionsmolekülen auf der Zelloberfläche sowie das Sortierungsverhalten der Zellen in 3D-Kulturen, um damit die Gültigkeit etablierter konkurrierender Hypothesen zu testen.
Dabei konnten Schwächen in gegenwärtigen Theorien aufgezeigt werden. Deshalb wirbt Käs generell für einen neuen Forschungsansatz hinsichtlich der Tumorausbreitung: Während man sich bisher auf die Änderung von Prozessen innerhalb von Einzelzellen konzentrierte, sind womöglich die kollektiven mechanischen Eigenschaften ganzer Zellverbände und deren globale Bewegungsmuster entscheidender – ein Ansatz, welcher der Tumorforschung neue Impulse geben könnte.
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Originalpublikation: "Testing the differential adhesion hypothesis across the epithelial−mesenchymal transition" DOI: 10.1088/1367-2630/17/8/083049