In Deutschland erkranken jedes Jahr etwa 7000 Menschen an einem bösartigen Tumor in der Schilddrüse. Experten vermuten, dass dieser Krebs sogar noch häufiger ist. „Rund 90 Prozent der Schilddrüsentumore stellen sogenannte differenzierte papilläre oder follikuläre Schilddrüsenkarzinome dar. Diese können durch eine Operation – meist in Kombination mit einer Behandlung mit radioaktivem Jod – sehr gut behandelt werden“, sagt Professor Dr. med. Matthias M. Weber, Leiter der Endokrinologie der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Großes Fragezeichen
Bei fünf bis zehn Prozent der Tumore sind differenzierte Funktionen, wie zum Beispiel die Radiojodaufnahme, zugunsten eines aggressiven Wachstums verloren gegangen. „Diese gering differenzierten (PDTC) oder anaplastischen Karzinome (ATC) sind bislang nicht heilbar und nur mit deutlich schlechterem Ergebnis behandelbar“, berichtet Weber.
„Die mittlere Überlebenszeit bei diesen oft schon bei der Diagnose weit fortgeschrittenen und sehr aggressiven Schilddrüsentumoren liegt oft nur noch im Bereich von wenigen Jahren oder gar Monaten“, so der DGE-Mediensprecher. Bei der Entstehung dieser seltenen Schilddrüsenkarzinome blieben bisher noch sehr viele Fragen offen.
o war zum Beispiel unklar, ob sie direkt aus normalen Zellen entstehen oder sich aus einem differenzierten Schilddrüsenkarzinom heraus entwickeln. Unbekannt war auch, was zu dem raschen Wachstum führt. Eine gezielte Genom-Untersuchung hat auf beide Fragen jetzt erstmals Antworten gefunden.
Spektrum an Genveränderungen
Ein Team um Iñigo Landa und James Fagin vom Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York hat Gen-Mutationen in 117 PDTCs und ATCs untersucht und mit dem bereits bekannten Mutationsmuster von papillären Schilddrüsenkarzinomen verglichen.
„Die Untersuchungen zeigen, dass PDTCs und ATCs im Gegensatz zu papillären Karzinomen ein komplexes und umfassendes Spektrum an Genveränderungen in verschiedenen Signalwegen, Wachstums- und Zellzyklusregulatoren aufweisen, damit ein buntes Potpourri an Mutationen, welche dem Tumor das hohe Aggressivitätspotenzial verschaffen“, erläutert Professor Dr. Dr. med. Dagmar Führer, Direktorin der Klinik für Endokrinologie und Stoffwechselerkrankungen am Universitätsklinikum Essen.
PTCs haben hingegen ein sehr einfaches Mutationsmuster, in der Regel eine aktivierende BRAF V600E oder seltener RAS-Mutationen. Diese Tumoren haben auch eine exzellente Prognose. „Das genetische Chaos‘ nimmt insgesamt vom gering differenzierten zum anaplastischen Karzinom noch einmal zu, was die besonders kurze Überlebenszeit beim ATC erklärt.“
Genaue genetische Analyse
„Die neue Studie bietet Chancen für die Diagnostik und die Behandlung von Schilddrüsenkarzinomen“, glaubt Führer: „Die genaue genetische Analyse von Schilddrüsenkarzinomen könnte uns in Zukunft noch besser zeigen, welche Tumore von einem raschen Fortschreiten bedroht sind und welche weniger aggressiv behandelt werden müssen.“
Für einige der entdeckten Treibermutationen in PDTCs und ATCs gibt es Medikamente. Für andere sind Wirkstoffe in der Entwicklung. „Immunonkologische Therapien sind gerade bei Tumoren mit hoher genetischer Instabilität vielversprechend. Ein solches „genetisches Chaos“ wie beim ATC lässt erwarten, dass Immuntherapeutika auch hier wirksam sein könnten“, so Professor Führer. Es komme jetzt darauf an, für Patienten mit diesen seltenen Tumoren Studien anzubieten, um die bislang äußerst ungünstige Prognose der Erkrankung zu durchbrechen.
Die DGE rät allen Menschen mit Tumoren der Hormondrüsen wie der Schilddrüse zu einer ärztlichen Untersuchung beim Endokrinologen. In den allermeisten Fällen handelt es sich bei Schilddrüsentumoren um gutartige Knoten, die oft auch nicht behandelt werden müssen. Bei einem Krebs erfolgt in der Regel eine Schilddrüsenoperation und in Abhängigkeit von der Art und dem Stadium oft auch eine Radiojodtherapie.
Quelle: idw – Informationsdienst Wissenschaft
Publikation: Fagin JA. et al.; Genomic and transcriptomic hallmarks of poorly differentiated and anaplastic thyroid cancers; Journal of Clinical Investigation, 2016; doi:10.1172/JCI85271