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Rote Blutkörperchen.

Der Pyruvatkinase-Mangel ist ein angeborener Enzymdefekt. © Thinkhubstudio / iStock / Getty Images

Pyruvatkinase-Mangel: Neu entdeckte krankheitsmodifizierende Therapie mit Mitapivat

Der Wirkstoff Mitapivat zeigte in der internationalen Studie ACTIVAT mit Würzburger Beteiligung erstmals eine zielgerichtete, medikamentöse Therapie bei einer angeborenen hämatologischen Erkrankung wie dem Pyruvatkinase-Mangel.

„Unsere Patientinnen und Patienten haben geradezu dafür gebrannt, an der ACTIVATE-Studie teilzunehmen“, berichtet Privatdozent Dr. Oliver Andres, Oberarzt in der Kinderklinik und Poliklinik am Universitätsklinikum Würzburg, Leiter der Studie in Würzburg und Koordinator für Deutschland. Das Leid mit einem Pyruvatkinase-Mangel sei so groß, da greifen die Betroffenen zu jedem Strohhalm, der ihnen Unterstützung geben könnte. Und das Medikament Mitapivat hat das Potential dazu, wie die Auswertungen der Studie zeigen.

Gestörter Energiestoffwechsel

Der Pyruvatkinase-Mangel ist ein angeborener Enzymdefekt. Durch eine Mutation im PKLR-Gen, über 300 Mutationen allein auf diesem Gen sind inzwischen bekannt, kommt es zu einer Störung im Energiestoffwechsel der roten Blutkörperchen, der sogenannten Erythrozyten. „Diese schwellen an, verändern ihre Struktur und können sich nicht mehr verformen, was jedoch wichtig für den Blutfluss in den kleinsten Gefäßen und die Sauerstoffabgabe an das Gewebe ist“, erklärt der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Erythrozyten-Experte Oliver Andres am Mikroskop. „Der Defekt, der sich schon im Neugeborenenalter oder sogar vor der Geburt zeigen kann, verkürzt zudem die Lebensdauer der roten Blutkörperchen; sie werden frühzeitig in der Milz abgebaut.“

Die Folgen sind Gelbsucht und Blutarmut, in der Fachsprache als hämolytische Anämie bezeichnet. Durch die Blutarmut wird der Körper alarmiert; er lagert hierdurch und durch die vielen therapeutisch nötigen Bluttransfusionen vermehrt Eisen ein, was wiederum die Organe belastet und zu Funktionsstörungen führt. Die Erkrankung ist nur bei 3,5 bis 8,2 von einer Million Menschen sicher diagnostiziert, Oliver Andres geht neueren Schätzungen zufolge von einer deutlichen Dunkelziffer mit einer realen Häufigkeit in Mitteleuropa von bis zu einer Erkrankung auf 20 000 Einwohner aus. Der Pyruvatkinase-Mangel sei damit sicher unterdiagnostiziert.

Wirkstoff Mitapivat aktiviert Enzym Pyruvatkinase

Bei den Betroffenen vergrößert sich die Milz, es drohen Gallensteine, Osteoporose, Blutgerinnsel und andere Begleiterscheinungen, sie fühlen sich chronisch müde und wenig belastbar. Die einzige Behandlung bestand bislang aus regelmäßigen Bluttransfusionen, einer Entfernung der Milz und aus Medikamenten, die das Zuviel an Eisen im Körper ausschleusen. Die Stammzelltransplantation mit einer Familien- oder Fremdspende ist Andres zufolge zu riskant, um als gängige Therapieoption zu dienen. Doch das Medikament Mitapivat macht nun Hoffnung und könnte für viele Betroffene ein Durchbruch in der Behandlung sein. Denn es verbessert die Aktivität der Pyruvatkinase in den Erythrozyten und macht die roten Blutkörperchen gewissermaßen wieder flexibel und fit.

Therapie nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip

In der internationalen, randomisierten, doppelt verblindeten, placebo-kontrollierten Phase-III-Studie ACTIVATE zeigten die Patientinnen und Patienten, die ein halbes Jahr lang mit dem oral einzunehmenden Medikament Mitapivat behandelt wurden, eine signifikante Verbesserung der Lebensqualität im Vergleich zu denen, die ein Placebo erhielten. In den ersten zwölf Wochen der Behandlung wurde die Dosis optimiert, einige Betroffene benötigten nur zweimal täglich 5 Milligramm, andere zweimal 20 oder gar 50 Milligramm. In weiteren zwölf Wochen wurde das Ansprechen beobachtet. „Einige konnten wieder Fahrrad fahren oder sogar joggen“, schildert der Oliver Andres die verbesserte Leistungsfähigkeit. Und 40 Prozent der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer, die Mitapivat erhielten, erreichten den vorab definierten primären Zielpunkt der Studie. Ihr Hämoglobinwert, ein indirektes Maß der Anzahl an roten Blutkörperchen, stieg um mindestens 1,5 g/dL (Gramm pro Deziliter).

„Das klingt für Laien möglicherweise nicht so beeindruckend“, meint Oliver Andres, der als Co-Autor an den Studienergebnissen beteiligt ist. „Aber selbst, diejenigen, deren Wert „nur“ um einen Punkt stieg, haben enorm profitiert. Mit Mitapivat haben wir erstmals einen Wirkstoff bei hämatologischen Erkrankungen, der dort ansetzt, wo das Problem liegt. Es bindet an das Enzym Pyruvatkinase und steigert seine Aktivität, damit in den roten Blutkörperchen mehr Energiebausteine zur Verfügung gestellt werden. Voraussetzung ist natürlich, dass das Enzym nur in seiner Struktur verändert ist und nicht vollständig fehlt.“ Diese Tatsache treffe aber für die meisten Defekte in Deutschland und weltweit zu, erklärt der auf Blut- und Krebserkrankungen sowie Neugeborenenmedizin spezialisierte Kinderarzt. „Wir haben dies vor zwei Jahren in einer anderen großen internationalen Studie belegen können.“ (Bianchi P et al., Am J Hematol 2020; doi: 10.1002/ajh.25753).

Krankheit erstmals 1961 entdeckt

Das Uniklinikum ist mit fünf gescreenten und vier randomisierten Patientinnen und Patienten nach Boston, Paris und Kopenhagen das viertgrößte Studienzentrum weltweit und fungierte als nationales Koordinationszentrum in der Studie. Die Charité in Berlin hat ebenfalls einen Probanden rekrutiert, München, Heidelberg und Freiburg haben ihre Patienten über Würzburg betreuen lassen. Finanziert wurde die multizentrische Studie von der Firma Agios Pharmaceuticals mit Sitz in Cambridge nahe Boston (USA), wo sich mit dem Massachusetts General Hospital (MGH) das größte Studienzentrum befindet.

Im ältesten und größten Lehrkrankenhaus der Medizinischen Fakultät der Harvard-Universität wurde die Krankheit 1961 entdeckt und 1962 genauer beschrieben, fand dann jedoch lange Zeit kein bis wenig Interesse. „Es gibt nur wenige Zentren, die dieser gutartigen Erkrankung Aufmerksamkeit schenken. Doch es ist wichtig, hier die Flagge hochzuhalten, um die Krankheit zu diagnostizieren und die chronisch schwerkranken Patientinnen und Patienten zu unterstützen“, betont Oliver Andres. Der Experte für den Pyruvatkinase-Mangel hat daher auch den Anstoß für den Aufbau einer Selbsthilfegruppe gegeben, die betroffene Erwachsene und Kinder untereinander vernetzt.

Benefit für Placebo-Gruppe

Nun könnte der Pyruvatkinase-Mangel und die neu entdeckte krankheitsmodifizierende Therapie mit Mitapivat auch wegweisend für andere Anämien wie die Sichelzellanämie oder Thalassämie sein. „Energie ist das A und O für rote Blutkörperchen“, so Hanny Al-Samkari, Hämatologe am MGH und Erstautor der Studie. Die US-Arzneimittelbehörde FDA hat aufgrund der hervorragenden Zwischenergebnisse der Studie das Medikament bereits für die Behandlung von Erwachsenen mit Pyruvatkinase-Mangel zugelassen. Die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA prüft derzeit die Zulassung für Europa.

Diejenigen, die im Rahmen der Studie ein Placebo erhielten, dürfen jetzt an einer erweiterten sogenannten Open-Label Extension Study teilnehmen und erhalten das Medikament noch vor der Zulassung in Europa. Damit werden weitere Daten zur Wirksamkeit und Verträglichkeit gesammelt. Ob Mitapivat auch bei Kindern mit Pyruvatkinase-Mangel hilft, das wird in einer folgenden Studie untersucht, die voraussichtlich Ende 2022 startet, und wieder mit Würzburger Beteiligung.

Quelle: Universitätsklinikum Würzburg


Originalpublikation: Hanny Al-Samkari et al.; Mitapivat versus Placebo for Pyruvate Kinase Deficiency; NEJM, 2022; DOI: 10.1056/NEJMoa2116634

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