Die metachromatische Leukodystrophie (MLD) ist eine seltene, genetische Stoffwechselerkrankung (1:40.000 in Europa). Durch ein defektes Enzym, der Arylsulfatase A, sammeln sich bestimmte Fette, sogenannte Sulfatide, im Gehirn. Nervenzellen und die weiße Substanz des Gehirns bauen sich unaufhaltsam ab, die betroffenen Kinder versterben früh. Seit 2020 ist in Europa eine hochwirksame Gentherapie zugelassen.
Frühe Diagnose durch Screening
Die Therapie muss sehr früh erfolgen, noch bevor Krankheitssymptome auftreten. Rechtzeitig eine Diagnose zu stellen, war bisher allerdings oft nicht möglich. Mit dem weltweit ersten Neugeborenen-Screening zeigen die Forscherinnen und Forscher der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Tübingen, dass eine rechtzeitige Diagnose schon bei Neugeborenen möglich ist.
Durch das Screening konnten erste Neugeborene mit MLD diagnostiziert und mit der Gentherapie behandelt werden. Ziel ist, das Screening in das in Deutschland standardisierte Screening aufzunehmen. In diesem wird jedes Neugeborene in den ersten Lebenstagen auf derzeit 32 behandelbare Erkrankungen getestet.
Ergebnisse des Pilotprojekts 2021
Das Neugeborenen-Screening ist eine der bedeutendsten Maßnahmen zur frühzeitigen Erkennung und Behandlung von angeborenen Erkrankungen. Es verbessert das Leben und die Gesundheit der betroffenen Kinder erheblich und wird in Deutschland kontinuierlich erweitert. Bald könnte auch die Untersuchung auf MLD in das Neugeborenen-Screening mitaufgenommen werden.
2021 startete in Tübingen das weltweit erste Pilotprojekt, bei dem über 170 000 Neugeborene aus ganz Deutschland getestet wurden. Bei vier von ihnen war das Screening positiv. Die Diagnose der MLD konnte im neurometabolischen Labor der Kinderklinik und im Institut für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik am Universitätsklinikum Tübingen bestätigt werden.
Stammzelltransplantation in Planung
Drei Kinder mit früh beginnender und damit schwer verlaufender MLD wurden daraufhin bereits im ersten Lebensjahr mit einer Gentherapie behandelt. Das vierte Kind mit einer spät beginnenden Form der MLD wird in Tübingen regelmäßig untersucht, eine Stammzelltransplantation ist geplant.
Die ersten Ergebnisse des noch laufenden Pilotprojektes wurden kürzlich im New England Journal of Medicine veröffentlicht. An dem Pilotprojekt beteiligt waren neben dem Universitätsklinikum Tübingen auch das Screening-Labor Hannover, die Universitäten Heidelberg, Wien und Amsterdam, das Biotechnologieunternehmen Orchard Therapeutics sowie das auf seltene Erkrankungen spezialisierte, österreichische Labor ARCHIMEDlife.
Dreistufiger Test weißt MLD nach
Für das standardisierte Neugeborenen-Screening wird ein Blutstropfen aus der Ferse des Neugeborenen entnommen. Wenn die Eltern im Rahmen des Pilotprojektes ihre Einwilligung geben, werden die getrockneten Blutstropfen nicht nur auf die etablierten 32 Erkrankungen getestet, sondern auch auf MLD. Der Test erfolgt in einem dreistufigen Verfahren: Zunächst wird untersucht, ob die Sulfatide erhöht sind.
Anschließend wird überprüft, ob das bei der MLD defekte Enzym Arylsulfatase A erniedrigt ist. Im dritten Schritt wird das betroffene Gen sequenziert. „Wenn alle drei Stufen positiv sind, ist eine MLD hochwahrscheinlich. Nur dann werden die Eltern über den Befund informiert und zur Bestätigung der Verdachtsdiagnose nach Tübingen eingeladen“, sagt Prof. Samuel Gröschel, Leiter der Arbeitsgruppe Leukodystrophien am Universitätsklinikum Tübingen. Gemeinsam mit der Ärztin und Wissenschaftlerin Dr. Lucia Laugwitz und dem Team der Neuropädiatrie der Uni-Kinderklinik betreut und behandelt er Kinder mit MLD aus ganz Deutschland.
Erfolge der Tübinger Kinderklinik
Ziel einer MLD-Behandlung ist, das defekte Enzym zu ersetzen. Eine etablierte Methode ist die allogene Stammzelltransplantation, die in der Tübinger Kinderklinik seit 20 Jahren durchgeführt wird. Erfolgreich behandelt werden hierdurch allerdings nur Patientinnen und Patienten, bei denen die Erkrankung erst im späteren Kindes- oder Erwachsenenalter auftritt.
Die Stammzelltransplantation kann die Erkrankung aufhalten, wenn sie noch vor dem Auftreten der Symptome durchgeführt wird. Bei Kindern, bei denen sich die MLD bereits im frühen Kindesalter zeigt, hat sich die Stammzelltransplantation nicht bewährt. Für sie gab es vor der Zulassung der Gentherapie keine kurative Behandlungsmöglichkeit.
Gentherapie ist hochwirksam
Seit 2020 gibt es in Europa die Möglichkeit, Betroffene mit der Gentherapie (arsa-cel, Libmeldy) zu behandeln, seit 2024 auch in den USA. Hierbei werden Stammzellen aus dem Blut der Kinder herausgefiltert. Das defekte Gen wird im Labor korrigiert und die „reparierten Stammzellen“ werden im Rahmen einer sogenannten autologen Stammzelltransplantation zurückgegeben.
Langzeitergebnisse aus der Zulassungsstudie zeigen, dass in den 15 Jahre nach der Gentherapie keine Symptome der MLD auftreten und sich die Kinder nahezu altersentsprechend entwickeln. Die Universitätskinderklinik in Tübingen war das erste Zentrum in Europa und ist das einzige Zentrum in Deutschland, das die Gentherapie in der klinischen Routine anwendet.
Vorbeugung statt Symptombehandlung
Die Gentherapie ist hochwirksam bei frühen Formen der MLD (Erkrankungsbeginn im Alter bis zu 6 Jahren) und nur für diese zugelassen. In Tübingen wurden damit bereits acht Kinder erfolgreich behandelt. „Entscheidend für den Therapieerfolg ist, die Kinder in einem sehr frühen Stadium zu diagnostizieren und zu behandeln — bevor sich Symptome zeigen“, betont Laugwitz.
„Bisher konnten wir viele betroffene Kinder und ihre Familien nur begleiten und eine Linderung der Symptome anbieten, da die Krankheit bei der Diagnose schon zu weit fortgeschritten war, um sie aufzuhalten. Das Neugeborenen-Screening für MLD stellt daher einen Meilenstein dar. Es ermöglicht, alle betroffenen Kinder rechtzeitig zu behandeln“, führt sie aus.
MLD-Screening soll zum Standard werden
„Der Erfolg des Pilotprojektes belegt eindrücklich, dass sich der unermüdliche Einsatz für eine seltene Erkrankung lohnt. Das Neugeborenen-Screening wird das Leben der betroffenen Patientinnen und Patienten verändern“, sagt Prof. Hendrik Rosewich, Ärztlicher Direktor der Kinderheilkunde III (Schwerpunkt: Neuropädiatrie, Allgemeinpädiatrie, Diabetologie, Endokrinologie, Sozialpädiatrie) der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Tübingen.
Das Team rund um Prof. Gröschel und Dr. Laugwitz hofft nun, dass das MLD-Screening künftig in das deutschlandweite Neugeborenen-Screening aufgenommen wird. Hierfür wird ein Antrag beim Gemeinsamen Bundesausschuss eingereicht. Der Ausschuss prüft und entscheidet, ob ein Screening in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen wird.
Ausschlaggebend hierfür sind unter anderem die Schwere der Erkrankung, die Häufigkeit, die Zuverlässigkeit der Testmethode und das Vorhandensein einer wirksamen Behandlung. „Die Ergebnisse unseres Pilotprojektes sind der Beleg, dass das Screening auf MLD funktioniert. Daher sind wir optimistisch“, betont Gröschel.
Quelle: Universitätsklinikum Tübingen
Originalpublikation: Lucia Laugwitz et al.; Newborn Screening and Presymptomatic Treatment of Metachromatic Leukodystrophy; The New England Journal of Medicine, 2024, DOI: 10.1056/NEJMc2407165