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Tiefseeanglerfische verwachsen bei der Fortpflanzung miteinander

Besondere Fortpflanzungsstrategie: Tiefseeanglerfische verwachsen so fest miteinander, dass die Gewebe der Tiere miteinander verschmelzen. © Gajus / iStock / Getty Images Plus

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Sexueller Parasitismus: Tiefseeanglerfische verwachsen bei der Fortpflanzung miteinander

Forscher des Max-Planck-Instituts für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg und der University of Washington in Seattle haben herausgefunden, dass die ungewöhnliche Fortpflanzungsart der Tiefseeanglerfische mit Veränderungen im Erbgut einhergeht, die wichtige Funktionen der erworbenen Immunantwort außer Kraft setzen. Stattdessen nutzen die Tiere verstärkt die angeborene Immunantwort, um sich gegen Infektionen zu verteidigen. Die Entdeckung dieses bisher einzigartigen Immunsystems könnte neue Wege für die Behandlung von Patienten mit einer Immunschwäche eröffnen.

Tiefseeanglerfische verfolgen eine schier unglaubliche Fortpflanzungsstrategie. Winzig kleine Männchen wachsen an den sehr viel größeren Weibchen fest. Die bei dieser Fusion miteinander verbundenen Gewebe werden anschließend von nur einem gemeinsamen Blutkreislauf versorgt. Auf diese Weise wird das Männchen hinsichtlich der Nährstoffversorgung vollständig vom Weibchen abhängig, wie ein sich entwickelnder Fötus im Mutterleib oder ein Spenderorgan bei einem Transplantationspatienten.

Bei den Tiefseeanglerfischen, die auch als Seeteufel bezeichnet werden, wird dieses ungewöhnliche Phänomen als sexueller Parasitismus bezeichnet und trägt zum Fortpflanzungserfolg dieser Tiere bei, die im weiten Raum der Tiefsee leben, wo sich Weibchen und Männchen eher selten treffen.

Die dauerhafte Verbindung beider Geschlechter stellt eine Form der anatomischen Verbindung zweier Individuen dar, die in der Natur bis auf das seltene Auftreten bei genetisch identischen Zwillingen unbekannt ist. Vor allem das Immunsystem steht hier im Weg. Es reagiert auf fremdes Gewebe ebenso wie es auf Krankheitserreger reagieren würde.

Phänomen des sexuellen Parasitismus

Aus demselben Grund erfordern Organtransplantationen beim Menschen eine sorgfältige Abstimmung der Spender- und Empfängergewebeeigenschaften zusammen mit der Gabe von Immunsuppressiva. Nur so kann ein Organtransplantat langfristig überleben.

Wie ist es nun möglich, dass im Falle der Seeteufel Individuen derselben Art sich so scheinbar leicht verbinden können, wenn solche Fusionen sonst von einer gegenseitigen Gewebeabstoßung geprägt ist? Das Phänomen des sexuellen Parasitismus wurde 1920 von einem isländischen Fischereibiologen entdeckt.

Jetzt haben Wissenschaftler aus Deutschland und den USA dieses jahrhundertealte Rätsel gelöst. Vor etwa zehn Jahren begannen Thomas Boehm, Arzt und Immunologe am Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg, und Theodore W. Pietsch, Ichthyologe und weltweit führender Experte für Seeteufel an der University of Washington in Seattle (USA), die Genome verschiedener Seeteufelarten zu untersuchen.

Passung der Gewebsmerkmale

In den Fokus rückte dabei schnell die Struktur der sogenannten Haupthistokompatibilitätsantigene (MHC). Diese Moleküle befinden sich an der Oberfläche von Körperzellen und lösen im Immunsystem Alarm aus, wenn Zellen mit einem Virus oder einem Bakterium infiziert sind. Um sicherzustellen, dass alle Krankheitserreger effizient erkannt werden, sind die MHC-Moleküle extrem unterschiedlich.

Diese Eigenschaft macht es so schwierig, bei zwei Individuen einer Spezies identische oder nahezu identische MHC-Formen zu finden. Diese seltene Passung der Gewebsmerkmale macht die erfolgreiche Transplantation menschlicher Organe so aufwendig. Bei ihren Analysen stellten die Forscher fest, dass der sexuelle Parasitismus bei Seeteufel mit dem Verlust der für diese MHC-Moleküle codierenden Gene einhergeht, ganz so als hätten sie diese klassische Form der Immunüberwachung zugunsten der erfolgreichen Gewebefusion abgeschafft.

„Abgesehen von dieser ungewöhnlichen MHC-Konstellation haben wir auch entdeckt, dass zusätzlich die Funktion von Killer-T-Zellen in ihrer Wirkung stark eingeschränkt, wenn nicht ganz verloren ist. Normalerweise eliminieren Killer-T-Zellen infizierte Zellen oder greifen fremdes Gewebe während der Abstoßungsreaktion an. Diese beiden überraschenden Ergebnisse zeigen uns, dass das Immunsystem von Seeteufeln unter den Zehntausenden anderer Wirbeltierarten extrem ungewöhnlich ist“, berichtet Jeremy Swann vom MPI für Immunbiologie und Epigenetik und Erstautor der Studie.

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Überleben ohne adaptive Immunfunktionen

Nach diesen unerwarteten Befunden vermuteten die Wissenschaftler, dass die Neuorganisation des Immunsystems von Seeteufeln sogar noch umfangreicher ausgefallen sein könnte. Und in der Tat zeigten weitere Studien, dass bei einigen Seeteufelarten auch die so wichtigen Antikörper fehlen, die neben den Killer-T-Zellen die zweite Waffe im Arsenal der erworbenen Immunabwehr darstellen.

„Für den Menschen würde der kombinierte Verlust solch wichtiger Funktionen der erworbenen Immunantwort zu einer tödlichen Immunschwäche führen“, sagt Thomas Boehm, Direktor am MPI für Immunbiologie und Epigenetik und leitender Wissenschaftler des Projekts.

Die Seeteufel sind jedoch offensichtlich in der Lage, auch ohne die adaptiven Immunfunktionen zu überleben. Die Forscher kamen deshalb zu dem Schluss, dass Seeteufel ungewöhnlich effektive angeborene Immunfunktionen nutzen, um sich gegen Infektionen zu verteidigen. Dies stellt eine höchst unerwartete Lösung für ein Problem dar, mit dem alle Lebewesen konfrontiert sind.

Koevolutionäre Partnerschaft

Bislang ging man davon aus, dass eine in der Evolution einmal entstandene Partnerschaft von erworbener und angeborener Immunität nicht auflösbar ist. Somit zeigt die Studie, dass Wirbeltiere, zu denen die Seeteufel und auch der Mensch gehören, trotz mehrerer hundert Millionen Jahre koevolutionärer Partnerschaft von angeborenen und adaptiven Immunfunktionen letztlich auch ohne adaptive Immunität überleben können.

„Wir gehen davon aus, dass bisher unbekannte Umweltbedingungen Veränderungen im Immunsystem bewirkten, die dann für die Evolution des sexuellen Parasitismus genutzt wurden“, sagt Thomas Boehm.

Die Wissenschaftler haben darüber hinaus in den untersuchten Seeteufel-Arten vermutlich eine Art entdeckt, deren Immunsystem ein Zwischenstadium auf dem Weg zur Entwicklung eines sexuellen Parasitismus darstellen könnte.

Mögliche Strategien

„Die ungewöhnliche Fortpflanzungsform ist also in dieser Gruppe von Fischen im Verlauf der Evolution offensichtlich mehrmals unabhängig voneinander erfunden worden“, erklärt Ted Pietsch von der University of Washington.

Obwohl die Immunsysteme der Seeteufel noch nicht im Detail entschlüsselt sind, deuten die Ergebnisse dieser Studie auf mögliche Strategien hin, die angeborene Immunität bei Patienten mit ererbter oder erworbenen Immunschwäche zu verbessern.

Was vor hundert Jahren mit einer zunächst als obskur eingeschätzten Beobachtung an Bord eines Fischerboots im Atlantik begann, weist nun in ganz unerwarteter Weise auf mögliche neue Wege für die Behandlung von Immunerkrankungen beim Menschen hin.

Quelle: Max-Planck-Gesellschaft

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