Sie enthält auch Stellungnahmen zur molekulargenetischen Diagnostik der Erkrankung. „Eine kausale Therapie für die Huntington-Erkrankung ist nach wie vor nicht möglich. In den vergangenen Jahren wurden aber zahlreiche Therapieansätze erprobt, die wir hier kritisch diskutieren“, so Prof. Dr. Carsten Saft, Leiter des Huntington Zentrums an der Ruhr-Universität Bochum und federführender Autor der Leitlinie.
Die Huntington-Krankheit ist eine schwere, schleichend beginnende Erbkrankheit, die sich oft schon im Alter von 35 bis 40 Jahren bemerkbar macht. In Deutschland und Westeuropa sind Schätzungen zufolge etwa sieben bis zehn von 100 000 Menschen bereits von der Krankheit betroffen, Männer und Frauen gleichermaßen. Die Zahl derer, die das Erkrankungsrisiko tragen, ist ungleich höher. Denn Kinder von Erkrankten haben eine fünfzigprozentige Wahrscheinlichkeit, das verursachende Gen zu erben und selbst zu erkranken.
Der Abbau von Hirnzellen führt häufig zu ruck- und krampfartigen Bewegungsstörungen, auch „Chorea“ genannt, von griechisch „Tanz“. Gerade bei jüngeren Patienten oder Kindern steht jedoch eine Bewegungsverlangsamung im Vordergrund. Dazu kommen vor allem zu Beginn der Erkrankung häufig psychische Veränderungen und im fortgeschrittenen Stadium absolute Pflegebedürftigkeit, da fast alle Körperfunktionen gestört sind.
Bewegungsstörungen gelindert, Funktion stabilisiert
„In jüngster Zeit wurden Dutzende von Studien unternommen mit dem Ziel, das Leid der Betroffenen zu lindern. Vor diesem Hintergrund haben wir die Ergebnisse gesichtet und Empfehlungen verfasst, die für Fachärzte und Psychologen, Physiotherapeuten, Logopäden und Ergotherapeuten, aber natürlich auch für die Patienten und deren Angehörige gedacht sind“, erklärt Saft.
Zumindest in einer Studie ist es gelungen, mit dem Wirkstoff Deutetrabenazin die Bewegungsstörungen merklich zu verringern. Ob und wann dieses Medikament in Deutschland zugelassen wird, ist allerdings noch ungeklärt. Ein weiterer Arzneimittel-Kandidat ist Pridopidin. Hier wurde zwar das eigentliche Studienziel verfehlt, allerdings stabilisierte diese Substanz möglicherweise bestimmte Körperfunktionen, sodass eine weitere Studie geplant ist.
Die Fachleute um Saft verzeichnen auch eine Reihe von Fehlschlägen, beispielsweise mit dem Alzheimer-Medikament Memantine, aber auch in zwei großen Studien mit hochdosiertem Coenzym Q10 und Kreatinin. Die beiden letzteren Untersuchungen wurden abgebrochen, weil eine Zwischenauswertung belegte, dass keine Aussicht auf Erfolg bestand.
„Auch wenn solche Ergebnisse natürlich enttäuschend sind, so bringen sie doch wichtige neue Erkenntnisse zum Nutzen der Patienten“, sagt Saft. Die Forscher sind gegenüber Naturstoffen durchaus aufgeschlossen. So fand in Deutschland eine Studie zur Verträglichkeit von Grüntee Konzentraten statt, deren Ergebnisse derzeit ausgewertet werden.
Vom Naturstoff bis zur Tiefenhirnstimulation
Die Behandlungsansätze, die weltweit erprobt werden, sind äußerst vielfältig. Neben der klassischen Arzneimitteltestung versucht man gezielt, das bei der Huntington-Krankheit defekte Gen HTT stillzulegen („gene silencing“). Verschiedene Ansätze hierzu, wie auch die „Genschere“, siRNA oder Zinkfingerproteine, müssen noch weiter im Tiermodell untersucht werden.
Mit einem auf Antisense-Oligonukleotiden-basierten Ansatz hat man nun aber den ersten Schritt vom Labor zum Patienten gewagt. Nur eine kleine Handvoll von sehr früh erkrankten Patienten konnte an einer Studie zur Untersuchung der Sicherheit und Verträglichkeit des Präparats teilnehmen. Erste Ergebnisse werden in den nächsten Wochen erwartet. Die Übertragung von Stammzellen ins Gehirn ist noch in der Vorbereitungsphase, eine kleine deutsche Studie zur Tiefenhirnstimulation wurde jedoch bereits 2015 abgeschlossen.
Bei einigen Patienten sah man dabei eine Besserung der Bewegungsstörungen, sodass eine Folgestudie begonnen wurde. Zukunftsträchtig könnten auch die Resultate einer Genom-weiten Assoziationsstudie sein. Hier fand man im Erbgut von 4000 Personen jenseits des eigentlichen HTT-Gens drei Stellen, die offenbar den Zeitpunkt beeinflussen können, an dem die Erkrankung ausbricht. Ob die dort vermuteten Gene sich als neue Therapieziele eignen, ist allerdings noch völlig offen.
Morbus Huntington als Sonderfall der Präimplantationsdiagnostik
Eine deutsche Besonderheit sind die strengen gesetzlichen Grundlagen zur Diagnose und insbesondere zur Präimplantationsdiagnostik (PID), also der Testung am Embryo bzw. der befruchteten Eizelle. Erste Zentren für eine PID der Huntington-Krankheit in Deutschland wurden inzwischen zugelassen. Die Entscheidung, ob eine PID zulässig ist, trifft die zuständige Ethikkommission an den PID-Zentren nach Antrag durch das ratsuchende Paar in Einzelfallentscheidung.
Für die früher zulässige Pränataldiagnostik gilt heute, dass diese bei einer spät im Leben auftretenden Krankheit wie Huntington hierzulande nicht erlaubt ist. Jedoch gibt es auch sehr seltene Fälle einer Huntington-Erkrankung mit einem Erkrankungsbeginn bereits vor dem 18. Lebensjahr. In solchen Sonderfällen sollte die Anwendung der Methode nicht prinzipiell ausgeschlossen, sondern „kritisch diskutiert“ werden, heißt es in der Leitlinie.
Schon im Jahr 2004 haben Forscher und Ärzte die europaweite Datenbank REGISTRY ins Leben gerufen, in der bis 2015 fast 15 000 Patienten und mögliche Träger eines veränderten HTT-Gens auf freiwilliger Basis registriert wurden. So konnte man aussagekräftige Daten zum Verlauf der Krankheit erfassen und leichter Teilnehmer für Studien gewinnen. Der nächste Schritt ist bereits getan: „Die Beobachtungsstudie ENROLL-HD, wesentlich durch Herrn Prof. Landwehrmeyer aus Ulm initiiert, wird nun weltweit wichtige Daten liefern und dafür sorgen, dass neue Therapien und Ideen zukünftig noch schneller überprüft werden können“, so Saft.
Quelle: Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN)
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