Branche
on
Mann mit einem Glas Scotch

Der Gesamtverbrauch an alkoholischen Getränken stieg im Jahr 2022 gegenüber dem Vorjahr (2021: 118,5 l) um 1,4 %. © LuismiCSS / iStock / Getty Images Plus

|

Suchtgefahr: Wie Alkoholkonsum das Gehirn schädigt

Alkohol ist gesellschaftlich akzeptiert, auch wenn der Mythos vom „gesunden Gläschen Wein“ nicht mehr länger zu halten ist. Gerade die Auswirkungen einer Alkoholsucht auf das Gehirn sind katastrophal, Menschen mit „Trinkerkarrieren“ erreichen bereits in mittleren Lebensjahren demenzähnliche Zustände mit z. T. komplettem Verlust der Selbstautonomie. Denn Alkohol schädigt Nervenzellen über verschiedene Mechanismen. Diese Gefahr des Alkoholkonsums wird nur selten thematisiert, da Betroffene nicht an den neurologischen Folgen, sondern an Leberversagen oder Krebs sterben.

Laut Angaben des Bundesministeriums für Gesundheit konsumieren 7,9 Millionen Menschen der 18- bis 64-jährigen Bevölkerung in Deutschland Alkohol sogar in gesundheitlich riskanter Menge1. Der Gesamtkonsum an reinem Alkohol (Liter pro Kopf) ist in den Jahren zwischen 2010 und 2020 zwar zurückgegangen (von 11,6 auf 10,6 l), doch im „DHS Jahrbuch Sucht 2024“ ist nachzulesen: „Der Gesamtverbrauch an alkoholischen Getränken stieg im Jahr 2022 gegenüber dem Vorjahr (2021: 118,5 l) um 1,4 % (1,6 Liter) auf 120,1 Liter Fertigprodukt pro Kopf der Bevölkerung.“ Auch wenn der Trend offensichtlich zu weniger hochprozentigen alkoholischen Getränken geht, ist der Konsum zu hoch, regelmäßig und offensichtlich unbedacht.

Gut für die Gesundheit? Ein Mythos …

Woher kommt diese unkritische Einstellung? Es gab eine Reihe epidemiologischer Studien, die eine sogenannte J-Kurve zeigten; d. h. Menschen, die „null Alkohol“ konsumierten, hatten eine höhere Sterblichkeit als die, die einen moderaten Alkoholkonsum angaben. Bei höheren Alkoholmengen stieg das Sterberisiko dann deutlich an.

Dann kam aber heraus, dass unter den Personen, die einen „Null-Alkohol-Konsum“ angegeben hatten, viele abstinente Ex-Alkoholkranke waren, sodass die „J-Kurve“ das Produkt einer methodischen Verfälschung war. Eliminierte man diesen Fehler, stieg die Risikokurve auch bei kleinen Alkoholmengen schon an. Damit ist der Mythos, ein „bisschen“ Alkohol sei besser als Abstinenz, definitiv vom Tisch.

Alkohol schädigt Nerven und Gehirn

Bekannt ist, dass Alkohol süchtig machen kann, die Leber schädigt und auch das Krebsrisiko erhöht. Aber kaum jemand spricht von den Folgen von Alkohol auf die Nerven und das Gehirn. Wie sehr Alkohol die Nerven schädigt, wird klar, wenn man betrunken ist: Man reagiert verlangsamt, hat eine gestörte Koordination und später dann Erinnerungslücken. Dies gibt bereits einen Vorgeschmack auf die potenziellen Langzeitschäden von Alkohol für das Nervensystem. Die neurotoxische Wirkung von Alkohol wird über verschiedene Wirkweisen vermittelt1:

  • Thiaminmangel
    Thiamin, auch bekannt als Vitamin B1, ist entscheidend für gesunde Nerven, denn es wird zur Bildung von Nukleinsäuren und Neurotransmittern benötigt. Der Körper ist nicht in der Lage, Thiamin selbst zu produzieren, es muss mit der Nahrung aufgenommen werden. Alkoholabhängige Menschen sind oft mangelernährt und nehmen per se zu wenig Thiamin auf2. Es gab sogar schon Versuche, Thiamin dem Bier beizusetzen. Doch der Effekt ist gering, denn Alkohol unterbindet die Thiaminaufnahme und -verwertung im Körper. So gelingt die Aufnahme dieses B-Vitamins aus dem Darm nicht mehr, weil dafür sowohl Energie als auch ein normaler pH-Wert benötigt wird3,4, Letzterer ist bei Alkoholismus reduziert. Darüber hinaus behindert Alkohol die Fähigkeit der Zellen, Thiamin zu verwerten. Die sogenannte Thiaminpyrophosphokinase wird durch Alkohol gehemmt5.
  • Bildung von Acetaldehyd, einem Nervengift
    Alkohol wird im Körper zu Acetaldehyd verstoffwechselt. Dieses Abbauprodukt von Ethanol führt dosisabhängig zum Absterben von Nervenzellen (neuronaler Zelltod). Chronischer Alkoholkonsum führt daher zu neuronaler Degeneration6.
  • Neuroinflammation
    Alkohol führt zur Entzündung von Nervengewebe. Er erhöht die Zahl entzündungsfördernder Zytokine, die die Blut-Hirn-Schranke (BHS) überwinden und Entzündungen im Gehirn verursachen können7. Auch begünstigt er die Inflammation durch Verschiebung der Neurotransmitterspiegel. So ist beispielsweise bekannt, dass Alkohol den Glutamatspiegel über die Hemmung des N-Methyl-D-Aspartat (NMDA)-Rezeptors erhöht7. Hohe Konzentrationen von Glutamat im Gehirn können neurotoxisch wirken und neuronale Schäden verursachen. Alkohol kann auch über die Aktivierung von Neuroimmunzellen (Mikroglia und Astrozyten) direkt eine neuronale Entzündung auslösen, die einen weiteren neurotoxischen Faktor darstellt8.
  • Lebervermittelte Schädigung der Gehirnzellen
    Wenn es durch Alkoholmissbrauch zu einer Leberschädigung kommt, führen die dann anfallenden neurotoxischen Substanzen wiederum zu einer Gehirnschädigung („hepatische Enzephalopathie“). Damit ist das Gehirn auch indirekt ein Opfer der organbedingten Alkoholschäden9,10.

Alkoholassoziierte Erkrankungen

Häufig unterschätzt, weil im Krankheitsbild zunächst wenig „imposant“, ist die Polyneuropathie. Sie entsteht durch Schädigung der peripheren Nerven durch den Alkohol. Sie kann auch andere Gründe haben (z. B. Diabetes), bei etwa jedem fünften Betroffenen ist sie allerdings alkoholbedingt. Anfänglich äußert sie sich durch ein unangenehmes Kribbeln in den Beinen, im Vollbild bringt sie Dauerschmerzen mit sich und beeinträchtigt die Lebensqualität enorm. Viele Menschen mit Alkoholproblemen sind früher oder später betroffen (Schätzungen zufolge zwischen 22 und 66 %).

Die neurologischen Folgekrankheiten und Syndrome eines erhöhten Alkoholkonsums, die durch Schädigungen der Nervenzellen des zentralen Nervensystems entstehen, ähneln den typischen Symptomen der Betrunkenheit, sind allerdings dann chronisch. Beim Korsakow-Syndrom oder dem extrem seltenen Marchiafava-Bignami-Syndrom beispielsweise nehmen die kognitiven Fähigkeiten ab, es kommt zu Sprachstörungen, unkontrollierten Bewegungen – und im Endstadium zu einer Demenz (siehe Beschreibung der Krankheitsbilder im Anhang).

Neurologische Langzeitfolgen des Alkoholkonsums

„Alles in allem kann man sagen, dass die neurologischen Langzeitfolgen des Alkoholkonsums enorm sind. Sie treten oft nicht in Erscheinung, weil sie natürlich zusammen mit anderen alkoholinduzierten Krankheiten auftreten, die meistens als Todesursache im Vordergrund stehen. Verstirbt ein Alkoholiker an einer Leberzirrhose, bleibt in den Köpfen hängen, dass Alkohol die Leber schädigt, selbst wenn der Betroffene über viele Jahre zuvor an einer Alkoholdemenz litt“, erklärt Prof. Frank Erbguth, Präsident der Deutschen Hirnstiftung.

„Unser Anliegen ist es deshalb, die Gefahren des Alkohols auf Nerven und Gehirn bekannter zu machen – denn, um es einmal plakativ auf den Punkt zu bringen: Ja, man kann sich tatsächlich sein Gehirn wegsaufen.“

Quelle: Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V.


Originalpublikationen: 

  1. David Nutt et al.; Alcohol and the Brain; Nutrients, 2021, DOI: 10.3390/nu13113938.
  2. A D Thomson et al.; Patterns of 35S-thiamine hydrochloride absorption in the malnourished alcoholic patient; J Lab Clin Med, 1970
  3. Jack C Reidling et al.; Adaptive regulation of intestinal thiamin uptake: molecular mechanism using wild-type and transgenic mice carrying hTHTR-1 and -2 promoters; Am J Physiol Gastrointest Liver Physiol, 2005, DOI: 10.1152/ajpgi.00539.2004.
  4. A D Thomson et al.; The natural history and pathophysiology of Wernicke’s Encephalopathy and Korsakoff’s Psychosis; Alcohol Alcohol, 2006, DOI: 10.1093/alcalc/agh249.
  5. Masayoshi Takeuchi et al.; Cytotoxicity of acetaldehyde-derived advanced glycation end-products (AA-AGE) in alcoholic-induced neuronal degeneration; Alcohol Clin Exp Res, 2005, DOI: 10.1097/01.alc.0000190657.97988.c7.
  6. Jun He et al.; Increased MCP-1 and microglia in various regions of the human alcoholic brain; Exp Neurol, 2008, DOI: 10.1016/j.expneurol.2007.11.017.
  7. D M Lovinger et al.; Ethanol inhibits NMDA-activated ion current in hippocampal neurons; Science, 1989, DOI: 10.1126/science.2467382.
  8. Fulton T Crews et al.; Neuroimmune Function and the Consequences of Alcohol Exposure; Alcohol Res, 2015
  9. Brian C Davis et al.; Effects of Alcohol on the Brain in Cirrhosis: Beyond Hepatic Encephalopathy; Alcohol Clin Exp Res, 2018, DOI: 10.1111/acer.13605.
  10. Frank Erbguth et al.; Alkoholenzephalopathie. Referenz Neurologie, Georg Thieme Verlag Stuttgart, 2019

Newsletter abonnieren

Newsletter Icon MTA Blau 250x250px

Erhalten Sie die wichtigsten MT-News und Top-Jobs bequem und kostenlos per E-Mail.

Mehr zum Thema

Neuronen
Gehirn

Das könnte Sie auch interessieren

Menschliches Herz
Krebszelle Nahaufnahme
Bauchspeicheldrüsenkrebs