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Zuckermolekül könnte neue Therapieoption für Multiple Sklerose eröffnen

Die Multiple Sklerose, kurz MS, äußert sich bei jedem Menschen etwas anders. Man nennt sie daher auch die Krankheit der tausend Gesichter. © Eskemar / iStock / Getty Images Plus

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Potenzieller Biomarker: Zuckermolekül könnte neue Therapieoption für Multiple Sklerose eröffnen

Forschende des Berliner ECRC sind gemeinsam mit einem Team aus den USA und Kanada auf ein Zuckermolekül gestoßen, dessen Konzentration im Blut von Patient*innen mit besonders schwerer Multipler Sklerose verringert ist. Wie sie berichten, könnte ihre Entdeckung eine neue Therapieoption eröffnen.

Die Multiple Sklerose, kurz MS, äußert sich bei jedem Menschen etwas anders. Man nennt sie daher auch die Krankheit der tausend Gesichter. Ein besonders düsteres Gesicht trägt die MS bei Patient*innen, die an der chronisch fortschreitenden Verlaufsform erkrankt sind. Denn anders als bei der häufigeren schubförmigen Variante, bei der die Betroffenen oft monate- oder gar jahrelang beschwerdefrei sind, verschlechtert sich der Zustand der Patient*innen bei der auch als progredient bezeichneten Form der MS kontinuierlich.

Schlecht isolierte Nervenzellen sterben ab

Heutige Therapieansätze gehen davon aus, dass ein fehlgesteuertes Immunsystem irrtümlich die Myelinschicht der Nervenzellen angreift. Dabei handelt es sich um eine isolierende Schutzhülle, die die langen Ausläufer der Zellen, die Axone, umgibt. „Bei der progredienten MS kommt es zu vermehrten neurodegenerativen Prozessen. Dadurch sterben immer mehr Nervenzellen im Gehirn und im Rückenmark ab“, erläutert Dr. Alexander Brandt, Erstautor der jetzt veröffentlichten Studie. „Die genauen Ursachen für diese Variante der Erkrankung sind jedoch noch immer unbekannt.“ Das US-amerikanische National Institute of Allergy and Infectious Disease, das National Center for Complimentary and Integrative Health sowie das deutsche Exzellenzcluster NeuroCure förderten die Studie.

Nun hofft Dr. Brandt zusammen mit Professor Friedemann Paul vom Experimental and Clinical Research Center (ECRC), einer gemeinsamen Einrichtung der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC), sowie elf weiteren Forschenden aus Berlin, Irvine und Toronto, etwas mehr Licht ins Dunkel gebracht zu haben. Wie das Team in seiner Studie berichtet, könnte der Einfachzucker N-Acetylglucosamin, kurz GlcNAc genannt, eine wichtige Rolle bei der Entstehung der progredienten MS spielen. Im Organismus ist GlcNAc gemeinsam mit anderen Zuckermolekülen kettenartig an Proteine auf der Zelloberfläche gebunden. Dieser als Glykosylierung bekannte Mechanismus kontrolliert über eine Verzweigung dieser Zuckerketten diverse Zellfunktionen.

Zuckermolekül könnte als ein Biomarker dienen

„Wir haben 120 Probandinnen und Probanden aus Irvine untersucht und konnten zeigen, dass bei dieser besonders schweren Form der Erkrankung deutlich geringere Konzentrationen an N-Acetylglucosamin im Blutserum vorliegen als bei gesunden Menschen oder Patientinnen und Patienten mit schubförmiger MS“, sagt Brandt. Zum Zeitpunkt der Untersuchungen leitete der Mediziner das „Translational Neuroimaging Laboratory“ in Pauls Arbeitsgruppe für Klinische Neuroimmunologie der Charité. Inzwischen ist Brandt als Dozent für Neurologie zur School of Medicine der University of California in Irvine (UCI) gewechselt, bleibt der Charité aber weiterhin als Gastwissenschaftler erhalten.

„In einer weiteren Untersuchung von 180 Patientinnen und Patienten mit schubförmiger oder progredienter MS aus Berlin haben wir zudem festgestellt, dass niedrige Serumspiegel von GlcNAc mit einem progressiven Krankheitsverlauf, klinischer Behinderung und Neurodegeneration assoziiert sind“, ergänzt der korrespondierende Autor der Studie, Professor Michael Demetriou von der UC Irvine. „Dies eröffnet neue potenzielle Wege, um Erkrankte mit einem erhöhten Risiko für einen progredienten Verlauf frühzeitig zu identifizieren und ihre Therapie entsprechend anzupassen.“

Therapiestudien am Menschen sind in Planung

Bereits im Herbst 2020 hatten Brandt, Demetriou und weitere Forschende um den damaligen Erstautor Dr. Michael Sy von der UC Irvine im „Journal of Biological Chemistry“ berichtet, dass sie GlcNAc säugenden Mäusen verabreicht hatten. Die Tiere gaben den Zucker, der übrigens auch in der menschlichen Muttermilch enthalten ist, an ihre Nachkommen weiter. Dies stimulierte die primäre Myelinisierung der Nervenzellausläufer bei den Jungtieren. „In den Mäuseexperimenten konnten wir zudem beobachten, dass N-Acetylglucosamin die Vorläuferzellen des Myelins aktiviert und auf diese Weise sowohl die primäre Myelinisierung als auch die Reparatur von beschädigtem Myelin fördert“, sagt Brandt.

Die Forschenden hoffen daher, dass sich GlcNAc nicht nur als Biomarker für die progrediente MS eignet, sondern darüber hinaus eine neue Therapieoption eröffnen könnte. „Unsere Hoffnung ist es, dass wir mit GlcNAc und der verbundenen Glykosylierung die Myelinreparatur fördern und so die Neurodegeneration verringern“, sagt Brandt. In einer ersten gerade abgeschlossenen, aber noch unveröffentlichten Phase-I Studie mit rund 30 Proband*innen haben die Wissenschaftler*innen untersucht, ob eine Einnahme von GlcNAc in bestimmten Dosierungen sicher ist. Sollte sich dieses bestätigen, hofft das Forschungsteam, in weiteren Studien mögliche Effekte als MS-Therapie untersuchen zu können.

Quelle: Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft


Originalpublikation: Alexander Brandt et. al.; Association of a Marker of N-Acetylglucosamine With Progressive Multiple Sclerosis and Neurodegeneration; JAMA Neurology, 2021, DOI:10.1001/jamaneurol.2021.1116

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