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Mann mit Tinnitus

Die Forschungsergebnisse sind für das Verständnis von Tinnitus von Bedeutung. © Aleksej Sarifulin / iStock / Getty Images Plus

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Tinnitus: Interdisziplinäre Forschung bringt bahnbrechende Erkenntnisse

Ein internationales Forschungsteam hat Prozesse im Gehirn identifiziert, die zur Entwicklung eines neuen Modells für die Entstehung und Chronifizierung von Tinnitus beitragen. Die Erkenntnisse entstanden durch die Zusammenarbeit von experimentellen Neurowissenschaften mit der Computational Neuroscience, wobei auch Prinzipien aus der KI- Forschung einbezogen wurden. Durch diese Zusammenführung der Forschungsdisziplinen erhoffen sich die Forschenden die Eröffnung weiterer Möglichkeiten in der Tinnitus-Forschung und -Behandlung.

Tinnitus ist eine Erkrankung, bei der die Betroffenen Geräusche wie ein Klingeln oder Pfeifen wahrnehmen, ohne dass es eine äußere Geräuschquelle gibt. Das wird als Phantomwahrnehmung bezeichnet und belastet die Erkrankten stark. Weltweit sind etwa 12 Prozent der Menschen von Tinnitus betroffen.

Die Krankheits- und Folgekosten durch Tinnitus liegen allein in Deutschland bei rund 21,9 Milliarden Euro pro Jahr und somit in der Größenordnung der Kosten von Volkskrankheiten wie Diabetes. Neue Erkenntnisse, die zu einer besseren Behandlung führen, könnten nicht nur das Leid der Betroffenen lindern, sondern auch die Kosten senken.

Zusammenspiel von Prozessen identifiziert

Ein internationales Forschungsteam unter der Führung von Dr. Achim Schilling und Dr. Patrick Krauss vom Neurowissenschaftlichen Labor der Hals-Nasen-Ohren-Klinik ‒ Kopf- und Halschirurgie des Uniklinikums Erlangen, das führende Neurowissenschaftler:innen in den USA, Kanada, Großbritannien und der FAU umfasst, identifizierte in seiner Arbeit das Zusammenspiel zweier zentraler Prozesse, das Phantomwahrnehmungen wie den Tinnitus auslöst.

Der erste Prozess ermöglicht dem Gehirn, basierend auf vorhandenem Wissen zukünftige Wahrnehmungen vorherzusagen. Dieser Prozess wird prädiktive Codierung genannt. Der zweite Prozess steigert die Aktivität von Nervenzellen entlang der Hörbahn durch Hinzufügen von neuronalem Rauschen, um schwache Signale, sprich: leise Geräusche, besser wahrzunehmen. Er wird als adaptive stochastische Resonanz bezeichnet.

Durch ein Zusammenspiel dieser beiden Prozesse kann es dazu kommen, dass das Gehirn das selbst generierte Rauschen als realen Ton interpretiert, obwohl es sich nur um ein „Verstärkersignal“ handelt. Hierdurch lässt sich die Phantomwahrnehmung von Tönen beim Tinnitus erklären.

Maßgebliche Verschmelzung von Forschungsbereichen

Das neue Modell erklärt auch, warum Tinnitus oft mit einer Überempfindlichkeit gegenüber leisen Tönen einhergeht, die als Hyperakusis bezeichnet wird: Das Gehirn verstärkt die schwachen Signale. Bislang stand die Wissenschaft hier vor einem Rätsel – der Zusammenhang von Tinnitus und Hyperakusis ließ sich nicht durch andere Modelle erklären.

Die Ergebnisse des Teams rund um die FAU-Forscher sind nicht nur für das Verständnis von Tinnitus von Bedeutung, sondern geben auch Aufschluss über Prozesse des alltäglichen Hörens. Die Wissenschaftler gehen zudem davon aus, dass ihre Erkenntnisse die Weiterentwicklung von KI-Technologien befördern und zu besseren Therapieansätzen für Tinnitus beitragen können.

Die Verschmelzung der Forschungsbereiche Computational Neuroscience, KI und experimentelle Neurowissenschaften beurteilen sie als maßgeblich für die Entwicklung des neuen Modells zu der das Hören betreffenden (Phantom-)Wahrnehmung. Dr. Schilling und Dr. Krauss gehen zudem davon aus, dass diese Zusammenarbeit nicht nur für die Behandlung von Tinnitus von Bedeutung ist, sondern den Weg für weitere Fortschritte auch in den Neurowissenschaften ebnet.

Quelle: Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU)


Publikation: Achim Schilling et al.; Predictive coding and stochastic resonance as fundamental principles of auditory phantom perception; Brain, 2023; doi: 10.1093/brain/awad255

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