Seide ist ein begehrtes Material mit vielen erstaunlichen Eigenschaften: Sie ist ultraleicht, belastbarer als manches Metall und kann extrem elastisch sein. Bislang wird Seide aufwendig aus gezüchteten Raupen gewonnen. „Weltweit arbeiten zahlreiche Forschergruppen daran, Seide künstlich herzustellen“, betont Ko-Autor Prof. Stephan Roth vom Deutschen Elektronen-Synchrotron DESY, der Adjunct Professor an der KTH Stockholm ist.
„Solches Material könnte auch so modifiziert werden, dass es neue Eigenschaften bekommt, und beispielsweise für Biosensoren oder selbstauflösende Wundverbände dienen.“ Die Natur nachzuahmen ist in diesem Fall allerdings besonders schwierig. Das schwedische Team setzt dabei auf eine Selbstmontage des biologischen Ausgangsmaterials. „Das ist ein im Grunde sehr einfacher Prozess“, erläutert Lundell.
„Manche Proteine bilden unter den richtigen Umgebungsbedingungen von selbst Nanofibrillen. Diese Proteinfibrillen werden dann in einer Trägerflüssigkeit durch einen Kanal gepresst, in dem sie mit zusätzlichen seitlichen Wasserstrahlen so stark verdichtet werden, dass sie sich zusammenlagern und eine Faser formen.“
Die Forscher nennen letzteren Prozess hydrodynamische Fokussierung. Auf diese Weise hatte ein Team um Lundell auch bereits künstliche Holzfasern aus Zellulosefädchen hergestellt. „Tatsächlich hat der Prozess einige Gemeinsamkeit mit der Art und Weise, wie Spinnen ihre Seide produzieren“, sagt Lendel.
Lange Fibrillen bilden schlechtere Fasern
Als Ausgangsmaterial nutzten die Forscher in der aktuellen Studie ein Molke-Protein, das unter dem Einfluss von Hitze und Säure Nanofibrillen bildet. Die längsten und dicksten Fibrillen entstehen bei einer Proteinkonzentration von weniger als vier Prozent in der Lösung. Sie werden im Mittel knapp 2000 Nanometer (millionstel Millimeter) lang und 4 bis 7 Nanometer dick.
Bei einer Proteinkonzentration von mehr als sechs Prozent in der Lösung bleiben die Fibrillen dagegen mit durchschnittlich 40 Nanometern deutlich kürzer und werden auch nur 2 bis 3 Nanometer dick. Zudem sind sie wurmartig gekrümmt statt gerade und 15 bis 25 Mal weicher als die langen Fibrillen.
Im Labor zeigte sich jedoch, dass aus den langen, geraden Fibrillen schlechtere Fasern entstehen als aus den kurzen, gekrümmten. Mit DESYs extrem heller Röntgenlichtquelle PETRA III konnten die Wissenschaftler nun erkunden, warum dies so ist.
„Die krummen Nanofibrillen verhaken sich viel besser miteinander als die geraden. Im Röntgenstreubild sieht man, dass die Struktur der gekrümmten Fibrillen auch in der fertigen Faser erhalten bleibt“, berichtet Ko-Autor Roth, der die DESY-Messstation P03 leitet, an der die Versuche stattfanden.
Grundlegendes Prinzip verstehen
„Die stärksten Fasern entstehen bei einer ausgewogenen Balance zwischen einer geordneten Nanostruktur des Materials und einer Verflechtung der Fibrillen“, ergänzt Lendel. „Natürliche Seide hat eine noch komplexere Struktur aus evolutionär optimierten Proteinen. Sie fügen sich so zusammen, dass es sowohl Regionen mit starker Ordnung gibt, sogenannte Beta-Sheets, die der Faser Stärke verleihen, als auch Regionen mit geringer Ordnung, die der Faser Flexibilität geben. Die Faserstrukturen der künstlichen und der natürlichen Seide unterscheiden sich allerdings wesentlich. Insbesondere haben die Proteinketten in natürlicher Seide eine größere Zahl intermolekularer Wechselwirkungen, die die Proteine verbinden und zu einer stärkeren Faser führen.“
In den Versuchen entstanden etwa fünf Millimeter lange Seidenfasern von mittlerer Qualität. „Wir haben das Molkeprotein benutzt, um das zu Grunde liegende Prinzip zu verstehen“, erläutert Lendel. „Der gesamte Prozess lässt sich nun optimieren, um Fasern mit besseren oder maßgeschneiderten Eigenschaften herzustellen.“ Die Erkenntnisse könnten dabei auch der Entwicklung anderer Materialien mit neuartigen Eigenschaften dienen, etwa künstlichem Gewebe für die Medizin.
Quelle: Deutsches Elektronen-Synchrotron DESY
Originalpublikation: Christofer Lendel et al.; Flow-assisted assembly of nanostructured protein microfibers; PNAS, 2017; DOI: 10.1073/pnas.1617260114