Um den komplexen Aufbau und die vielfältigen Funktionen des Gehirns zu entschlüsseln, sind große Datenmengen aus verschiedensten Quellen erforderlich. Diese Daten müssen in Computersimulationen wie Puzzleteile zusammengeführt werden, um die Mechanismen von Gehirnfunktion zu verstehen.
Zu diesem Zweck wurde die Gehirnsimulationsplattform „The Virtual Brain“ entwickelt. Sie ist in der Lage, die Messdaten einer Person in individuellen, patientenspezifischen Modellen zu vereinigen. Die Software simuliert anhand der Daten Patientengehirne und wird wie ein mathematisches Mikroskop eingesetzt: So lassen sich sogar Interaktionen zwischen Nervenzellen nachzuvollziehen, die am Menschen nicht direkt messbar sind.
Mit dieser Methode ziehen die Wissenschaftler Rückschlüsse, wie die neuronalen Schaltkreise des Gehirns miteinander interagieren, die den beobachteten Gehirnsignalen zugrunde liegen. Das internationale Projekt wird von Prof. Dr. Petra Ritter von der Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie mit zwei Kollegen aus Toronto und Marseille geleitet.
Personalisierte Computermodelle
„The Virtual Brain“ ging 2012 als Open-source-Simulationsplattform an den Start. Unter Leitung von Prof. Ritter haben die Wissenschaftler der Abteilung für Gehirnsimulation an der Klinik für Neurologie einen innovativen Ansatz entwickelt. Eine Art Haube zeichnet die messbaren elektrischen Gehirnsignale von der Kopfoberfläche eines Patienten als Elektroenzephalogramm (EEG) auf.
Diese Informationen werden anschließend in das personalisierte Computermodell integriert. Das Modell simuliert dann Hirnaktivitäten, die sich sonst nur in einem großen Bildgebungsgerät, dem Magnetresonanztomografen, messen lassen. Tatsächlich ließen sich mit dem Modell sechs verschiedene Prinzipen von Gehirnaktivität berechnen, die bisher nur teilweise und invasiv am Tier messbar waren.
Das Modell konnte dabei genau beschreiben, wie diese Prozesse zusammenwirken, um bestimmte Gehirnfunktionen zu erzeugen. Damit bestätigte sich die Hypothese, dass durch die Einbindung von EEG-Daten in das Computermodell sehr viel genauere Gehirnsimulationen möglich sind. Sie gestatten es, Gehirnprozesse räumlich und örtlich besser aufzulösen und somit besser zu verstehen.
Software mit Potenzial
„Die neue Methode der Gehirnsimulation erlaubt es, Messdaten und Theorien zur Funktionsweise des Nervensystems in einem umfassenden physiologisch und anatomisch realistischen Modell zu vereinen“ erklärt Prof. Ritter. Ein solches Verfahren ist in vielen Bereichen der Neurowissenschaft von großem Nutzen, um neue Hypothesen aufzustellen und zu testen. Die Konstruktion individueller Modelle anhand von Patientendaten ist hierbei ein speziell entwickelter Ansatz.
Sie haben das Potential, bei gesunden ebenso wie bei kranken Personen individuelle Unterschiede in der Funktionsweise des Gehirns aufzudecken. Im nächsten Schritt werden größere Gruppen von Patienten untersucht, um z.B. die Mechanismen bei Epilepsie, Schlaganfall und Demenz zu entschlüsseln.
Prof. Ritter über die aktuelle Forschung: „Die Software hat das Potential Patienten direkt zu helfen. In einer in Frankreich gestarteten klinischen Studie wird aktuell getestet, wie die Technologie bei chirurgischen Eingriffen die Heilung von Epilepsie unterstützen kann. Neurochirurgen simulieren den Eingriff zunächst am virtuellen Gehirn des Patienten und können so das Ergebnis optimieren.“
Aber auch die breite Bevölkerung könnte bald vom „Virtual Brain“ profitieren. Die an der Charité entwickelte BrainModes-App für Smartphones und Tablets erlaubt es mit kommerziell erhältlichen Neuroheadsets das eigene Gehirn besser kennenzulernen. Die Forscher an der Charité unter Leitung von Prof. Ritter werden diese Technologie weiterentwickeln, so dass sie in Zukunft auch die Steuerung von Maschinen, Computern und Exoskeletten durch Gedanken ermöglicht.
Quelle: Charité – Universitätsmedizin Berlin
Publikation: Michael Schirner et al.; Inferring multi-scale neural mechanisms with brain network modelling; eLife, 2018; doi: 10.7554/eLife.28927