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Wirkstoff gegen frühkindliche Epilepsie

Für die Durchführung des Projekts wurde das Forschungsteam mit dem Eva Luise Köhler Forschungspreis für Seltene Erkrankungen 2018 ausgezeichnet. © txking / iStock / Getty Images Plus

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Gendefekt: Wirkstoff gegen frühkindliche Epilepsie

Forschende des Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung, dem Universitätsklinikum und der Universität Tübingen haben herausgefunden, dass ein Medikament gegen Multiple Sklerose auch bei einer seltenen Form der genetisch bedingten Epilepsie helfen kann. Der Wirkstoff richtet sich dabei präzise gegen den zugrundeliegenden Gendefekt.

Epilepsie hat viele Gesichter. Bei einer genetisch bedingten Form leiden Betroffene bereits im ersten Lebensjahr an schweren epileptischen Anfällen. Die Erkrankung geht bei ihnen mit starken Entwicklungsstörungen einher: Es fällt ihnen schwer zu laufen, sie können sich schlecht konzentrieren und haben später Probleme beim Sprechen, Rechnen und Buchstabieren.

Bislang ließ sich diese Form der Epilepsie nur schlecht mit den üblichen Arzneimitteln behandeln. Tübinger Forschende setzten nun erstmals ein Medikament ein, das eigentlich gegen Multiple-Sklerose zugelassen ist.

Der Arzneistoff wirkt dem zugrundeliegenden Gendefekt direkt entgegen und linderte erfolgreich die Symptome der Erkrankten, berichtet das Team um Dr. Ulrike Hedrich-Klimosch, Dr. Stephan Lauxmann und Prof. Dr. Holger Lerche vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, dem Universitätsklinikum und der Universität Tübingen. Damit steht den betroffenen Kindern und Erwachsenen zum ersten Mal eine medikamentöse Behandlung zur Verfügung.

Mutationen schädigen Kanäle im Gehirn

Ursache dieser Form der frühkindlichen Epilepsie ist ein seltener Gendefekt. Mutationen im KCNA2-Gen führen zu geschädigten Kaliumkanälen im Gehirn. „Kaliumkanäle sind kleine Poren, die in der Zellmembran von Nervenzellen sitzen und für die Weiterleitung elektrischer Signale wichtig sind“, erklärt Erstautorin und Biologin Hedrich-Klimosch.

„Die Mutationen führen in manchen Unterformen der Erkrankung zu einer gesteigerten Aktivität des Kanals. In diesen Fällen wir sprechen wir von einer gain of function-Mutation." Das Forschungsteam setze nun erstmals ein Medikament zur Behandlung ein, das genau an dieser Stelle angreift.

„Eine ursachenbezogene Therapie muss in diesem Fall die gesteigerte Kanalaktivität hemmen," erläutert Mit-Erstautor und Neurologe Lauxmann. „Ein solcher Kanalblocker ist der Wirkstoff 4-Aminopyridin. Er hemmt spezifisch die Überaktivität der Kaliumkanäle und ist in einem Medikament enthalten, das zur Behandlung von Gangstörungen bei Multiple Sklerose Patienten zugelassen ist.“ 

In Kooperationen mit acht weiteren Zentren weltweilt behandelte das Team elf Patientinnen und Patienten in individuellen Heilversuchen mit der Arznei. Mit erfreulichen Ergebnissen: Bei neun von ihnen verbesserten sich die Symptome.

Hilfe durch Drug Repurposing

„Die Anzahl der täglichen epileptischen Anfälle reduzierte sich oder verschwand komplett. Die Patientinnen und Patienten waren im Alltag allgemein deutlich wacher und geistig fitter. Auch ihre Sprache verbesserte sich nach Beginn der Medikamentenbehandlung.“

Der Wirkstoff wirkt nicht bei allen Unterformen der Erkrankung. Bei manchen führt die Genmutation zu einer eingeschränkten Aktivität der Kaliumkanäle. Damit behandelnde Ärzte schnell entscheiden können, ob der Wirkstoff bei einer Patientin oder einem Patienten mit neu diagnostiziertem KCNA2-Gendefekt helfen kann oder nicht, haben die Forschenden eine Datenbank erstellt. In ihr sind die verschiedenen Mutationen aus der KCNA-Genfamilie und den damit verbundenen Auswirkungen auf den Kaliumkanal aufgelistet.

Auf diese Weise kann schnell mit einer Therapie begonnen werden und der oft schwere Krankheitsverlauf gelindert werden. „Bei Epilepsien, die durch KCNA2-Genmutationen verursacht werden, handelt es sich um sehr seltene Erkrankungen. Weltweit sind nur gut 50 Fälle bekannt,“ berichtet Studienleiter und Neurologe Lerche.

Die Entwicklung eines passenden Arzneimittels sei für diese „Waisenkinder der Medizin“ meist zu teuer und zu wenig rentabel für Pharmafirmen. „Umso mehr freut es uns, wenn wir diesen Patientinnen und Patienten individuell mit dem sogenannten Drug Repurposing helfen können: Dem Einsatz von Medikamenten, die eigentlich für andere Erkrankungen zugelassen sind.“

Quelle: Universität Tübingen


Publikation: Hedrich, U.B.S., Lauxmann, S. et al.; 4-Aminopyridine is a promising treatment option for patients with gain-of-function KCNA2-encephalopathy; Science Translational Medicine, 2021; DOI: 10.1126/scitranslmed.aaz4957

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