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Wie frei ist unser Wille?

Laut dem Libet-Experiment ist das Gefühl der freien Willensentscheidung eine Illusion. Die Hirnsginale sollen schon vorher die Entscheidung treffen. © Eraxion / iStock / Thinkstock

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Hirnforschung: Wie frei ist unser Wille?

Sind unsere Handlungen schon lange vor der bewussten Entscheidung im Gehirn angelegt? Das Libet-Experiment aus dem Jahr 1984 gilt bis heute als wichtigstes Experiment zum freien Willen. Ein Forscherteam des Universitätsklinikums Freiburg liefert eine alternative Erklärung für das Experiment. Die Ergebnisse zeigen, dass freier Wille und bisherige neurobiologische Experimente sich nicht widersprechen müssen.

Im Jahr 1984 führte der Physiologe Benjamin Libet ein Experiment durch, das bis heute wegweisend ist für die Hirnforschung zum freien Willen. Die Versuchspersonen sollten eine spontane Handbewegung machen und danach den Moment angeben, in dem sie sich für die Handlung entschieden hatten. Da die Probanden während des Experiments auf eine schnell laufende Uhr sahen, konnten sie den Zeitpunkt der Entscheidung sehr präzise benennen. Dieser lag etwa 200 Millisekunden vor der Bewegung selbst.

Die Forscher konnten aber schon eine Sekunde vor der Handbewegung ein spezifisches Hirnsignal messen, das Bereitschaftspotenzial. Dieses begann etwa eine bis 1,5 Sekunden vor der Bewegung, stieg dann an und erreichte mit der Bewegung seinen Höhepunkt. Libet und viele andere interpretierten den Befund so, dass das subjektive Gefühl der freien Willensentscheidung eine Illusion sei, da das Gehirn die Handlung schon weit früher vorbereite.

Hirnsignal erleichtert Entscheidungen, aber löst sie nicht aus

Nun legen Forscher um Prof. Dr. Stefan Schmidt, Psychologe an der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg, eine alternative Erklärung vor, die mit dem Prinzip des freien Willens in Einklang steht. Anders als bislang sehen sie den Anstieg des Bereitschaftspotenzials nicht als Ursache von Entscheidung und Handlung, sondern als ein Begleitphänomen. Das frühe Bereitschaftspotential bis etwa 400 bis 500 Millisekunden vor Beginn der Handlung ergibt sich vermutlich aus sehr langsamen Hintergrundschwankungen in der Gehirnaktivität.

Schwingen diese langsamen Hirnpotentiale in den negativen Bereich, wird das Gehirn offensichtlich reaktiver: Reaktionszeiten verkürzen sich, die Wahrnehmung wird sensibler. In diesen negativen Phasen entschieden sich die Probanden auch im Libet-Experiment überdurchschnittlich häufig für eine Spontanbewegung, wie die Forscher zeigen konnten.

Da die Versuche im Libet-Experiment in der Regel häufig wiederholt und gemittelt werden, addieren sich diese negativen Schwankungen auf und ergeben so das Bereitschaftspotential. „Wir wissen aus den Experimenten, dass ein negatives Bereitschaftspotenzial Entscheidungen erleichtert, sie aber nicht auslöst. Es ist einer von vielen Einflussfaktoren“, sagt Prof. Schmidt.

Meditationsgeübte können Handlungsimpuls kontrollieren

Dass das Bereitschaftspotenzial und die Entscheidung weit weniger stark zusammenhängen als bislang gedacht, wiesen die Forscher 2013 nach, indem sie selbst das Libet-Experiment durchführten. Anders als üblich werteten sie jeden experimentellen Durchgang einzeln aus, anstatt bis zu 40 Durchgänge zu mitteln. Es zeigte sich, dass das Hirnsignal in einem Drittel der Durchgänge positiv oder neutral war statt wie erwartet negativ. „Das widerspricht der gängigen Annahme, dass der Anstieg eine direkte Vorbereitung der Handlung ist“, so Prof. Schmidt.

All diese Erkenntnisse sind in die von den Wissenschaftlern entwickelte Slow Cortical Potential Sampling Hypothese oder kurz SCP-Hypothese eingeflossen. Die Forscher haben auch eine Erklärung dafür, weshalb die meisten Entscheidungen gefällt werden, während die langsamen Schwankungen im negativen Bereich sind. „Das Ansteigen des Bereitschaftspotenzials wird offensichtlich als innerer Impuls oder Bedürfnis verspürt, sich für die Handlung zu entscheiden“, sagt Prof. Schmidt.

Die Wissenschaftler führten das Experiment auch mehrfach mit meditationserfahrenen Versuchspersonen durch. Diese sind aufgrund der Stabilisierung ihrer Aufmerksamkeit besser als nicht Meditierende in der Lage, innere Vorgänge zu beobachten und zu berichten. Einem Meditationsmeister gelang es, den inneren Impuls zum Handeln, also die negative Schwankung, zuverlässig zu identifizieren.

Folgte er dem Impuls, verstärkte sich das Bereitschaftspotential wie erwartet. Handelte er ohne Impuls, wurde es schwächer. Verzögerte er die Handlung nach dem Impuls, verschob sich auch das Bereitschaftspotential entsprechend. „Wir werden nicht nur nicht vom Bereitschaftspotenzial bestimmt, wir können es sogar bewusst verändern“, sagt Prof. Schmidt.

Quelle: Universitätsklinikum Freiburg


Publikation: Stefan Schmidt et al.; ‘Catching the Waves’ − Slow Cortical Potentials as Moderator of Voluntary Action; Neuroscience & Biobehavioral Reviews, 2016; DOI: 10.1016/j.neubiorev.2016.06.023

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