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Warum es immer mehr Kaiserschnitte gibt

Immer mehr Babys werden per Kaiserschnitt geboren. © PHDG / iStock / Thinkstock

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„Fitness-Dilemma": Warum es immer mehr Kaiserschnitte gibt

Frauen, die wegen einem Schädel-Becken-Missverhältnis ihrer Mutter durch Kaiserschnitt auf die Welt kamen, entwickeln mehr als doppelt so häufig ein Missverhältnis bei der Geburt ihrer Kinder als jene Frauen, die natürlich geboren wurden. Zu diesem Schluss kommen Evolutionsbiologen der Universität Wien. Die Daten unterstützen auch die These, dass die regelmäßige Anwendung von Kaiserschnitten bereits zu einer evolutionären anatomischen Veränderung geführt hat.

In den meisten Ländern hat sich die Anzahl der Kaiserschnitte in den letzten Jahrzehnten vervielfacht, sodass heute die Sectio caesarea eine der am häufigsten durchgeführten Operationen ist. Immer mehr Babys werden per Kaiserschnitt geboren, in Brasilien sind es sogar mehr als die Hälfte. Ein soziales Phänomen, urteilen Experten, ist doch die Rate tatsächlicher Geburtsprobleme, allen voran das sogenannte „Becken-Kopf-Missverhältnis" (Anm.: der Kopf des Kindes passt nicht durch den Geburtskanal), um ein Vielfaches geringer.

Philipp Mitteröcker vom Department für Theoretische Biologie an der Universität Wien hat sich die Frage gestellt, warum die Evolution nicht zu einem größeren Geburtskanal und damit zu sichereren Geburten geführt hat. In einer Studie aus 2016 erklärte der Evolutionsbiologe diese scheinbar paradoxe Situation mit einem populationsgenetisch-mathematischem Modell als eine Art „Fitness-Dilemma".

„Aus evolutionärer Sicht ist ein schmales Becken von Vorteil: Einerseits für unsere Fortbewegung, aber auch, weil es bei sehr breiten Becken bei der Geburt zum Gebärmuttervorfall und anderen Beckenbodenproblemen kommen kann", beschreibt Mitteröcker die eine Seite. Auf der anderen Seite erhöhen sich die Überlebenschancen eines Babys, je größer es bei der Geburt ist.

Ungewöhnlicher Selektionsprozess

Hier kommen sich also der Selektionsdruck hin zu schmaleren Becken und jener hin zu größeren Babys sozusagen in die Quere. „Für unsere Fitnesskurve heißt das: Je schmäler das Becken und größer das Kind, umso besser – aber eben nur bis zu dem Punkt, an dem das Kind nicht mehr durchpasst: Dann wird es abrupt fatal", so Mitteröcker.

Aufgrund dieses ungewöhnlichen Selektionsprozesses kann die Rate an Geburtsproblemen durch natürliche Selektion nicht verringert werden. Des Weiteren konnten Mitteröcker und sein Team durch ihr Modell zeigen, dass die regelmäßige Anwendung von lebensrettenden Kaiserschnitten in den letzten 50 bis 60 Jahren bereits eine evolutionäre Veränderung anatomischer Dimensionen bewirkt hat.

Diese wiederum hat die Häufigkeit von Geburtsproblemen durch ein Schädel-Becken-Missverhältnis um zehn bis 20 Prozent erhöht. Diese vorhergesagte Zunahme an Schädel-Becken-Missverhältnissen ist jedoch kaum empirisch belegbar, da ein solches Missverhältnis sehr schwer zu diagnostizieren ist. Die Kaiserschnittrate als indirektes Maß hat wiederum durch viele andere, auch nicht-medizinische Gründe wesentlich stärker zugenommen.

Komplexes epidemiologisches Muster

„Die Zunahme der Kaiserschnitte ist zwar ein soziales Phänomen, aber nicht nur: Auch die Geburtsproblematik hat zugenommen, wenngleich in einem viel geringeren Ausmaß als die Kaiserschnitte", erklärt Mitteröcker.

In der aktuellen Studie zeigen Mitteröcker und seine Kollegen nun, dass das „cliff edge-Modell" auch voraussagt, dass Frauen, die selbst wegen einem Schädel-Becken-Missverhältnis durch Kaiserschnitt auf die Welt kamen, mehr als doppelt so häufig ein Missverhältnis bei der Geburt ihrer Kinder entwickeln als Frauen, die natürlich geboren wurden. Dieser beträchtliche Effekt sollte einfacher in epidemiologischen Daten zu erkennen sein als die evolutionäre Zunahme.

„Tatsächlich fanden wir empirische Studien, die Geburtsprobleme und Kaiserschnitt über zwei Generationen untersuchten. Die vorhergesagte ‚Vererbbarkeit‘ von Schädel-Becken-Missverhältnis und Kaiserschnitt wird durch diese Studien erstaunlich genau bestätigt", so Mitteröcker. Diese theoretische Vorhersage eines komplexen epidemiologischen Musters liefert damit auch eine unabhängige Bestätigung des „cliff edge-Modells" und seiner evolutionären Implikation.

Quelle: Universität Wien


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