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Pockenvirus existiert länger als bisher gedacht

Elf der Menschen, bei denen das Virus nachgewiesen werden konnte, hatten zwischen etwa 600 und 1050 n. Chr. gelebt – also auch während der Wikingerzeit. © BlackAperture / iStock / Getty Images Plus

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Wikinger-Erbgut: Pockenvirus existiert länger als bisher gedacht

Das Pockenvirus zirkulierte in Nordeuropa schon im 7. Jahrhundert. Darauf weist die DNA aus Wikingerskeletten hin, die Forschende der Charité – Universitätsmedizin Berlin, der University of Cambridge und der University of Copenhagen jetzt analysiert haben. Das Team hat damit erstmals wissenschaftlich belegt, dass das Pockenvirus Menschen seit mindestens 1.400 Jahren infiziert. Die unerwartete genetische Diversität des Virus könnte auch für die Zukunft relevant sein.

Das Variolavirus, welches die Pocken verursacht, gilt als das tödlichste Virus weltweit: Allein im 20. Jahrhundert starben an der Krankheit 300 bis 500 Millionen Menschen, die Sterblichkeitsrate lag bei bis zu 30 Prozent. Das menschliche Pockenvirus wurde 1980 nach einer weltweiten Impfkampagne für ausgerottet erklärt.

Dennoch gibt es auch heute noch in Zentral- und Westafrika Fälle, in denen das verwandte Affenpockenvirus auf den Menschen übergeht – mit vergleichbaren Symptomen, aber geringerer Sterblichkeit als bei den Echten Pocken. Ungeklärt war bisher, wie lange das menschliche Pockenvirus vor seiner Ausrottung eigentlich zirkulierte.

Historische Schriften deuten darauf hin, dass es die Pocken bereits vor mehr als 3000 Jahren gegeben haben könnte. Das bisher älteste Skelett, in dem das Virus genetisch nachgewiesen werden konnte, war aber nur etwa 360 Jahre alt.

„Es gab also eine Diskrepanz von fast 3000 Jahren zwischen dem, was gemeinhin über die Historie des Pockenvirus angenommen wird, und dem, was man tatsächlich darüber weiß“, erklärt der Bioinformatiker Dr. Terry Jones, Leiter einer Arbeitsgruppe am Institut für Virologie am Campus Charité Mitte.

Erfolgreicher Ansatz

Zusammen mit Kollegen des Lundbeck Foundation GeoGenetics Centre der University of Copenhagen und der University of Cambridge leitete er die Studie. „Wir haben also versucht, mithilfe moderner molekularbiologischer Methoden wissenschaftliche Belege für die schriftlichen Hinweise auf ein früheres Auftreten der Pocken zu finden“, sagt Dr. Jones.

Der Ansatz war erfolgreich: Das Team entdeckte das Variolavirus in bis zu 1400 Jahre alten Gebeinen aus Wikinger-Grabstätten in Dänemark, Norwegen, Schweden, Russland und England. Für ihre Analyse untersuchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Erbgut von fast 1900 Skeletten, die zwischen 150 und mehr als 30 000 Jahre alt waren und in Europa und Amerika gefunden wurden.

In 13 Fällen gelang es ihnen, aus den Zähnen bzw. einem Teil des Schläfenbeins der Verstorbenen DNA-Fragmente des menschlichen Pockenvirus anzureichern. Dass es sich tatsächlich um alte DNA handelte, belegten die spezifischen Alterungsschäden an dem Erbmaterial. Elf der Menschen, bei denen das Virus nachgewiesen werden konnte, hatten zwischen etwa 600 und 1050 n. Chr. gelebt – also auch während der Wikingerzeit (793 bis 1066 n. Chr.).

Zeitliche Diskrepanz um rund 1000 Jahre reduziert

„Unsere Studie liefert damit zum ersten Mal einen molekularbiologischen Beweis dafür, dass bereits die Wikinger vom Pockenvirus infiziert wurden“, sagt die Erstautorin der Publikation Dr. Barbara Mühlemann, Wissenschaftlerin des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF) am Institut für Virologie am Campus Charité Mitte.

„Wir konnten so die Diskrepanz zwischen historischen Anekdoten und direktem Pocken-Nachweis um etwa 1000 Jahre reduzieren. Wir halten es aber für wahrscheinlich, dass es noch frühere Infektionen gab.“ Die neuen Forschungsergebnisse widersprechen verschiedenen bisherigen Annahmen, nach denen die Pocken beispielsweise erst durch zurückkehrende Kreuzritter im 11. bis 13. Jahrhundert nach Europa gebracht wurden.

„Auf Basis der jetzt nachgewiesenen Pockenfälle in Nordeuropa und historischer Erzählungen über mutmaßliche Fälle in Süd- und Westeuropa gehen wir davon aus, dass das Pockenvirus spätestens seit dem Ende der Wikingerzeit in Europa weitflächig zirkulierte“, resümiert Dr. Jones, der ebenfalls DZIF-Wissenschaftler ist und als Senior Research Associate an der University of Cambridge forscht.

Genetische Diversität

Einige der Proben waren so gut erhalten, dass die Forschenden anhand der extrahierten Fragmente die komplette Sequenz des Virus-Erbguts am Computer rekonstruieren konnten. Die Analyse der Sequenzen ergab, dass sich das Pockenvirus, das zu Zeiten der Wikinger zirkulierte, deutlich vom Variolavirus des 20. Jahrhunderts unterschied – und den Pockenviren, die heute in Kamelen und Rennmäusen zirkulieren, mehr ähnelte. Das alte Virus wies ein ganz anderes Muster aktiver und inaktiver Gene auf.

„Einige dieser Gene beeinflussen unter anderem die Spezifität von Pockenviren für ihren Wirt“, erklärt Dr. Mühlemann. „Das Aktivitätsmuster im Pockenvirus der Wikingerzeit könnte bedeuten, dass das Virus damals nicht nur den Menschen, sondern auch Tiere befallen konnte.“

Wie hoch die Sterblichkeit war oder welche Symptome das alte Virus hervorrief, lässt sich allerdings nicht ableiten – auch wenn die genetischen Daten darauf hinweisen, dass das Virus bei den Wikingern auch Fieber hervorgerufen haben könnte. „Wir hatten nicht mit einer solchen genetischen Diversität des menschlichen Pockenvirus gerechnet, das hat uns wirklich überrascht“, sagt Dr. Jones.

„Die Evolution des Pockenvirus ist deutlich komplexer, als wir angenommen haben. Wenn das menschliche Pockenvirus in der Vergangenheit so unterschiedlichen genetischen Pfaden gefolgt ist, könnten sich auch die noch immer zirkulierenden Tierpockenviren ähnlich weitgefächert entwickelt haben – mit möglichen Folgen für die Übertragung der Erkrankung vom Tier auf den Menschen. Wir sollten die Tierpockenviren in Zukunft deshalb besser im Blick behalten.“

Quelle: Charité – Universitätsmedizin Berlin


Publikation: Mühlemann B et al.; Diverse variola virus (smallpox) strains were widespread in northern Europe in the Viking Age; Science, 2020; doi: 10.1126/science.aaw8977

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