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Welche Patienten profitieren von Ocrelizumab?

Das Repertoire an Arzneimitteln gegen Multiple Sklerose (MS) wächst. Einige neue Substanzen stehen derzeit in klinischen Studien auf dem Prüfstand. © Comstock / Stockbyte / Thinkstock

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Multiple Sklerose: Welche Patienten profitieren von Ocrelizumab?

Mit Ocrelizumab steht bald eine Therapieoption zur Verfügung, die das Fortschreiten der primär progredienten Multiplen Sklerose (MS) nachweislich verlangsamt. Ergebnisse der ORATORIO-Studie belegen, dass die Substanz die Zahl der Läsionen im Gehirn reduziert und die Krankheitsprogression bremst. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) und das Krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) ordnen die Bedeutung der Ergebnisse ein.

„Das ist ein erster Fortschritt, denn der humane monoklonale Antikörper gegen B-Lymphozyten ist das erste Medikament, das überhaupt eine Wirkung bei primär progredientem Verlauf der MS zeigt“, kommentiert Professor Ralf Gold, Direktor der Neurologischen Klinik der Universität Bochum, Past-Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und Sprecher des Krankheitsbezogenen Kompetenznetzes Multiple Sklerose (KKNMS), die Studiendaten.

Ocrelizumab zerstört B-Zellen, die eine Schlüsselrolle bei der Entstehung typischer MS-Herde im zentralen Nervensystem spielen. Das Repertoire an Arzneimitteln gegen Multiple Sklerose (MS) wächst. Einige neue Substanzen stehen derzeit in klinischen Studien auf dem Prüfstand. Für Ocrelizumab hatten sich schon im Herbst 2016 positive Ergebnisse abgezeichnet.

Jetzt wurden die Phase-3-Studien im „New England Journal of Medicine“ publiziert. OPERA 1 und 2 untersuchten die Wirksamkeit von Ocrelizumab beim schubförmig-remittierenden Verlauf, ORATORIO testete den Antikörper bei der primär progredienten Verlaufsform der MS gegen Placebo.

Ocrelizumab bremst PPMS

Bei etwa zehn Prozent der MS-Patienten verschlechtern sich die neurologischen Ausfälle und die körperliche Behinderung ab Diagnose kontinuierlich. Bisher stand für die primär progrediente MS (PPMS) kein spezifisches Medikament zur Verfügung. „Wir konnten nachweisen, dass Ocrelizumab auch bei dieser Verlaufsform wirksam ist“, sagt Professor Hans-Peter Hartung, Direktor der Klinik für Neurologie der Universität Düsseldorf und Co-Autor der ORATORIO-Studie.

Dem internationalen Team um Prof. Dr. Xavier Montalban von der Vall-d’Hebron-Universität in Barcelona gelang es, 732 Patienten mit primär progredienter Multipler Sklerose (PPMS) in die ORATORIO-Studie einzuschließen. Sie erhielten, randomisiert im Verhältnis 2:1, entweder Ocrelizumab (600 mg) oder Placebo als Infusion. Die Behandlung erfolgte alle 24 Wochen über einen Zeitraum von mindestens 120 Wochen.

Primärer Endpunkt war eine bestätigte Krankheitsprogression in den ersten zwölf Wochen der Therapie, gemessen auf der Standardskala EDSS (Expanded Disability Status Scale), die MS-bedingte Behinderungen systematisch erfasst. In der Ocrelizumab-Gruppe verzeichneten die Forscher bei 32,9 Prozent der Patienten eine Krankheitsprogression, in der Placebo-Gruppe bei 39,3 Prozent.

Die Hazard Ratio, also das prozentuale Risiko fortschreitender Behinderung, lag bei 0,76 und sprach damit für Krankheitsstabilisierung (95%-Konfidenzintervall: 0,59 bis 0,98). Unter Ocrelizumab verschlechterten sich auch weniger Patienten nach 120 Wochen im 25-Meter-Gehtest: 55,1 versus 38,9 Prozent. Gering waren hingegen die Unterschiede in der Lebensqualität, die mittels SF36-Fragebogen erfasst wurden.

Untergruppe der Patienten profitiert

An der ORATORIO-Studie haben jüngere Patienten zwischen 18 und 55 Jahren teilgenommen, deren PPMS-Diagnose weniger als zehn Jahre zurücklag und die im Liquor Entzündungszeichen zeigten. Sie wiesen zu Beginn der Studie EDSS-Scores zwischen 3,0 und 6,5 auf. Patienten, die zuvor mit B-Zell-Therapien und anderen immunsuppressiven Medikamenten behandelt worden waren, wurden aus der Studie ausgeschlossen.

„Damit blieb eine quasi positiv selektierte Subgruppe von Patienten übrig“, betont Gold. Ocrelizumab sei zwar eine Innovation, aber es sei noch zu früh, um von einem Durchbruch bei der Therapie der progredienten Multiplen Sklerose zu sprechen, so der Neurologe. „Der therapeutische Effekt von Ocrelizumab bei PPMS ist geringer als bei schubförmig-remittierenden Verlaufsformen. Aber immerhin: Wir können in Zukunft Patienten mit primär progredienter MS erstmals überhaupt ein wirksames Medikament anbieten.“

Es bleibt momentan abzuwarten mit welchen Kommentaren oder auch Einschränkungen ein Zulassungstext versehen sein wird. Analogieschlüsse für andere B-Zell-depletierende Therapien entsprechen weiterhin einer Nutzung im Off-label-Bereich.

Angriff an den B-Zellen

Ocrelizumab ist ein gegen B-Lymphozyten gerichteter monoklonaler Antikörper (Anti-CD20) und eine Variante des Krebs- und Rheumamedikaments Rituximab. Die meisten MS-Medikamente richten sich gegen T-Zellen. Die Rolle der B-Zellen wurde lange unterschätzt, bis monoklonale CD20-Antikörper, die selektiv B-Zellen zerstören, in klinischen Studien eine Wirksamkeit auf die Entzündungsaktivität bei der MS zeigten.

„Die Wirksamkeit von Ocrelizumab belegt, dass B-Zellen auch an der Pathogenese der primär progressiven Multiplen Sklerose beteiligt sind und dass die B-Zell-vermittelte Entzündung eine direkte oder indirekte Rolle bei der Neurodegeneration spielt“, erklärt Hartung. Insgesamt wurde in allen drei Studien Ocrelizumab gut vertragen, es traten keine schwerwiegenden Infektionen auf.

Allerdings wurden einige wenige Fälle von Tumoren beschrieben, diese traten häufiger in den Ocrelizumab-Armen auf. In der ORATORIO-Studie kam es bei 2,3 Prozent der Patienten zu Krebserkrankungen (insbesondere Brustkrebs) gegenüber 0,8 Prozent in der Placebo-Gruppe. „Dies könnte theoretisch Ausdruck einer verminderten Immunüberwachung des Körpers nach B-Zell-Depletion sein“, sagt Gold.

Ob die Tumorentwicklung ein Sicherheitssignal darstellt, müsse die sorgfältige Beobachtung nach Zulassung zeigen, ergänzt Hartung. In ORATORIO kam es unter Ocrelizumab auch zu vermehrten Atemwegsinfektionen und Herpes-simplex-Infektionen. Die Zulassung der Substanz durch die europäische Zulassungsbehörde wird in diesem Jahr erwartet.

Quelle: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN)

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